Auch böse Menschen haben Lieder (2024)

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Auch böse Menschen haben Lieder (1)

Kann man den gewalttätigen Musiker von seiner Musik trennen? Und sollte man ein schlechtes Gewissen haben, wenn man es versucht? Von Klaus Walter

Böse Menschen haben keine Lieder“, sang Peter Alexander mit dem sogenannten Volksmund. „The devil has all the best tunes“, erwiderten Prefab Sprout und hatten den besseren Tune. Hat der Teufel die besten Melodien?

„f*ck Richard Wagner /Was für ein verdammtes Monster!“ So beginnt „F*ck Wagner“, die neue Single von Chilly Gonzales, laut Selbstauskunft: „Wahlkölner seit 2012 mit jüdischen Wurzeln, aber auch Fan von Richard Wagners Musik.“ Zur Erklärung zitiert Gonzales den Komponisten mit einem seiner Signatursätze: „Der Jude ist der plastische Dämon des Verfalls der Menschheit.“ Fan von Wagners Musik sein und Zielscheibe seines Antisemitismus, aus diesem Zwiespalt macht Chilly Gonzales einen plakativen Song über Popstars, die es einem schwermachen, ihre Musik (weiter) zu lieben. Zudem ist „F*ck Wagner“ die Fanfare zu einer Kampagne des Kölner Kanadiers. „Ich verspüre Wut und Scham, wenn ich die Richard-Wagner-Straße entlanggehe“, schreibt der Entertainer an die Stadtverwaltung und fordert die Umbenennung in Tina-Turner-Straße.

Die Umbenennung sei kein Akt der Cancel Culture, sondern der Versuch, die Kunst vom Künstler zu trennen. Aber wie soll das gehen? Wie können wir umgehen mit toller, geliebter Musik von (meist männlichen) Leuten, die sich diskreditiert haben.

„Kanye West is the brand new Wagner“ singt Gonzales, der mitunter geniale US-Produzent und Rapper ist mit Judenhasstiraden aufgefallen, auch mit Lob für Adolf Hitler. Gonzales spielt „immer noch den R.-Kelly-Remix zu ‚Ignition‘“, erzählt er in „F*ck Wagner“, wohlwissend, dass Kelly auf Jahrzehnte im Gefängnis sitzt wegen Missbrauchs von Minderjährigen. In Deutschland war der Musiker nie so populär wie in den USA, das macht es leichter, ihn aus Programmen und Playlists zu streichen, ohne als Vollstrecker der Cancel Culture dazustehen.

Und die Superstars? Die Hits von Michael Jackson laufen nach einer kurzen Pietätspause längst wieder im Radio: Unbeanstandet? Anstandlos? De mortuis nihil nisi bene? 15 Jahre nach seinem Tod wird über Jackson nichts Schlechtes mehr gesagt. In einer bizarren Mixtur aus Verdrängung und Täter-Opfer-Umkehr werden seine Taten beschwiegen. Das gute Werk wird getrennt vom bösen Urheber, als wäre nicht geschehen, was 2019 in der HBO-Doku „Leaving Neverland“ erzählt wird, die zu bestätigen schien, was alle zu wissen glaubten: Michael Jackson hat Kinder manipuliert und sexuell missbraucht. Die Eltern der Kinder haben es geschehen lassen, um nicht zu sagen: sie haben ihre Kinder an Jackson verkauft, geblendet von Ruhm und Reichtum.

Vier Stunden lang berichten Wade Robson und James Safechuck, weiße Männer, heute in ihren Vierzigern, in der Doku von den Qualen, die Jackson ihnen zugefügt habe. Quälend sind die Erinnerungen an die Star Power des King of Pop, mit der er die Jungs und ihre Familien verführt hat, mutmaßlich. Was passiert, wenn wir heute die von ihrem Schöpfer separierten Songs hören? Wird da nicht die Erinnerung an das Böse angetriggert?

Wenn nein, warum nicht? Regredieren Jacksons Songs, sobald wir sie über ein Begleitmedium konsumieren – Spotify, Popradio – zur akustischen Tapete jenseits von Gut und Böse? Warum tritt nicht der umgekehrte Effekt ein, eine Hermeneutik des Verdachts? Was singt der da? Es entsteht eine Vorher-Nachher-Kluft: „It’s the same old song, with a different meaning since things went wrong“, sangen die Four Tops, Jacksons Labelmates bei Motown.

Auch böse Menschen haben Lieder (2)

Schon die Titel der Hits: „P. Y. T. (Pretty Young Thing)“: Wer ist das schöne junge Ding? Wie jung ist das schöne Ding? Was tut Jackson mit dem schönen jungen Ding? „Human Nature“: Was ist die menschliche Natur? Was ist wider die menschliche Natur? „Man in the Mirror“: Wer ist der Mann im Spiegel? Kann Michael noch guten Gewissens in den Spiegel schauen? „Blood on the Dance Floor“: In der Doku erzählt Wade Robson vom Blut in seiner Unterhose, nachdem Jackson versucht habe, ihn anal zu penetrieren. „Smooth Criminal“: Wer ist der sanfte Kriminelle? Welche Verbrechen hat er begangen? „Remember the Time“: Erinnerst du dich an deine Kindheit, die Zeit der Unschuld? Oder war die Kindheit gar nicht unschuldig? „In the Closet“: Closet heißt Toilette, Wandschrank oder Geheimzimmer. Out of the Closet steht für Coming-out. In „Leaving Neverland“ behauptet eine Hausangestellte, Jackson habe in einem „closet in the closet“ geheime p*rno-Fotos aufbewahrt. Und immer wieder Kinder: „Childhood (Theme from ‚Free Willy‘)“, „Heal the world, save the children“ …

Um Jacksons Musik wieder genießbar, also repertoirefähig zu machen, müssen solche Polizeifragen unterbleiben, Kontexte draußenbleiben. Wo kämen wir denn hin, wenn wir alle, die sich mal danebenbenommen haben, von der Playlist nähmen? Nun ja, der Gender Gap würde schrumpfen. Andere Männer: Der britische Musikproduzent Joe Meek, Erfinder von Welthits wie „Telstar“, erschießt 1967 seine Vermieterin und dann sich selbst. Der kalifornische Sektenführer, Massenmordanstifter und Hobbymusiker Charles Manson bringt seinen Song „Never Learn Not To Love“ 1969 auf dem Beach-Boys-Album „20/20“ unter. Textprobe: „Pretty girl/Cease to exist/Give up your world/Submission is a gift...“, Unterwerfung ist ein Geschenk.

Der britische Glamrockstar Gary Glitter wird 2015 wegen sexueller Vergehen gegen Minderjährige zu 16 Jahren Haft verurteilt. Ian Watkins, Sänger der Lostprophets, geht 2013 wegen Kindesmissbrauchs für 29 Jahre ins Gefängnis. Aktuell werden dem HipHop-Mogul Puff Daddy aka P.Diddy sexuelle Übergriffe in Serie vorgeworfen. „Er dementiert oder zahlt“, kommentiert die Zeitung „Der Standard“. In der „Zeit“ schaut Jens Balzer auf rabiate Rapper: 6ix9ine, Kodak Black oder XXXTentacion, „der versucht hatte, seiner schwangeren Ex-Freundin das ungeborene Kind aus dem Leib zu prügeln“. Balzers Diagnose: „Was die offenbar unsterbliche Faszination für den ‚bösen Genius‘ eines sexuell gewalttätigen Maskulinismus betrifft, sind die Millennials keinen Schritt weiter als die Generationen ihrer Großeltern und Eltern.“

Die Umbenennung der Richard-Wagner-Straße in Tina-Turner-Straße leuchtet ein, die Sängerin ist nicht als Antisemitin aufgefallen, hat niemanden verprügelt und acht Jahre in Köln gelebt, mit dem Musikmanager Erwin Bach, „der Liebe ihres Lebens“ (Google). Eher nicht die Liebe ihres Lebens ist Ike Turner, Tinas erster Ehemann und musikalischer Partner bei Ike & Tina Turner. Als Bandleader wie als Gatte setzt Ike Turner seinen Willen mit Gewalt durch. In ihrer Autobiografie erzählt Tina von physischer und sexueller Brutalität, von Suizidgedanken. 1976 verlässt sie Ike und startet in den Achtzigern eine erfolgreiche Solokarriere.

Aber, immer diese Widersprüche, ihre beste Musik hat Tina Turner doch mit dem bösen Ike gemacht. Viele ziehen den explosiven R&B von Ike & Tina Turner ihren Solohits vor. Der explosivste von allen ist „River Deep – Mountain High“, gern genommen bei Wahlen zu den Greatest Songs Of All Time. Der makabre Treppenwitz geht noch weiter: Produziert wird „River Deep – Mountain High“ ausgerechnet von Phil Spector, der darauf besteht, dass Brutalo Ike bei den Aufnahmen das Studio verlässt. Prompt liefert Tina Turner eine sagenhafte Vokal-Performance, angetrieben von Spector, der schon mal mit Schusswaffen im Studio Regie führt und als unberechenbar gilt. 2003 erschießt Spector die Schauspielerin Lana Clarkson, wird wegen Mordes verurteilt und stirbt 2021 mit 81 Jahren im Gefängnis.

Tina Turners „River Deep – Mountain High“, ein Monument des Pop, nicht denkbar ohne zwei notorische Frauen(tot)schläger. Hat doch der Teufel die besten Tunes?

Auch böse Menschen haben Lieder (3)

Was tun mit Musik von diskreditierten Kerlen? Dabei geht es nicht um die ewig falsche „Darf man heute noch…“-Frage, mit der sich die fragende Person als Opfer der Woke-Diktatur inszeniert und die Antwort schon vorwegnimmt: „Das wird man doch wohl noch hören/sagen dürfen.“ Nein, die Fragen sind komplexer: Was passiert beim Hören? Kann ich „River deep“ genießen oder steht der prügelnde Ike im Weg. Phil Spector mit Knarre? Was ist mit Morrissey, der mit The Smiths in den 80ern eine neue, auf seine Art untoxisch-queere Männlichkeit im Left Field Pop performt, um sich später einen Herrenmenschen-Habit zuzulegen: „Chinesen sind eine niedere Spezies.“ Seine Fans reagieren mit (Ab-)Spaltung, freundlicher gesagt: Ambiguität. „Morrissey wurde irgendwann unerträglich, aber bis dahin… schon irgendwie ein großer Mann“, sagt Diedrich Diederichsen. Für den Popkritiker ist bei einem seiner spezielleren Lieblinge der Bogen überspannt. „Wirklich nahe gegangen ist mir als rauskam, dass Kim Fowley ein Vergewaltiger ist.“

Fowley (1939-2015), eine semipopuläre Figur an den Rändern des US-Rock-Biz, auf warholeske Art changierend zwischen Svengali, Impresario und Musiker im dekadenten L. A. zwischen Glam und Punk, gab gern den Dirty Old Man, bis klar wurde, dass er diese Rolle nicht bloß spielt. „Ich dachte, das ist ein Gentleman. Und es ist leider ziemlich entsetzlich. Da habe ich meine Leichtigkeit gegenüber Fowley verloren, da ist es mir wirklich reingefahren“, so Diederichsen. Zumal Fowley auch bei den Runaways Pate stand (was immer Pate stehen hier bedeuten mag).

The Runaways, eine US-Rockband aus den späten 70ern mit kurzer Lebensdauer und langem Nachruhm, bestand aus jungen Frauen. Die wahre Rolle des als Produzent firmierenden Kim Fowley in der Geschichte der Band bleibt umstritten. Fest steht, dass die Frauen um Sängerin Joan Jett heute als Pionierinnen der popfeministischen Riot-Grrrl-Bewegung gelten. Erfunden? Produziert? Dirigiert? Manipuliert von dirty old Kim, einem Vergewaltiger. Es bleibt kompliziert. Böse Menschen haben Lieder.

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